Der zweiundzwanzigste Dezember begann nicht mit ĂŒbellauniger Stille, sondern mit dieser ganz bestimmten Sorte Ruhe, die entsteht, wenn drei Menschen gleichzeitig versuchen, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihnen die Zeit im Nacken sitzt.
Erna goss Kaffee ein. Starker Kaffee. Der bratonische Typ, der Möbel polieren könnte. âWir suchen weiterâ, sagte sie ruhig. Nicht streng. Eher wie jemand, der das Offensichtliche ausspricht, damit es weniger schwer wirkt. Falbala nickte. âAlle drei?â Barney rieb sich die Augen. âWenn ich noch einmal Deko anfasse, werde ich persönlich grinchgrĂŒn.â Falbala tippte ihm gegen den Oberarm. âDu warst gestern schon fast chartreuse.â Erna schnaubte ein kleines Lachen. âWir teilen uns aufâ, sagte sie. âMarktplatz, Umfeld und Stadt. Wir machenâs wie gestern â nur ernsthafter.â
Dass Hadesâ Platz frei blieb, sprach keiner aus. Niemand machte Bemerkungen, niemand blickte lĂ€nger als nötig zur leeren Stelle. In Bratonien hieĂ RĂŒcksicht manchmal: Stille statt Worte.
Der Vormittag war ein einziger Versuch, Hoffnung zu finden â und stattdessen Unbehagen zu ernten.
Erna ging ĂŒber den Marktplatz. Viele Menschen, viele Stimmen, viele Bewegungen â aber keine WĂ€rme. Keine Vorfreude. Alles wirkte wie eine sehr gut geprobte AuffĂŒhrung, der das Herz fehlte. âNicht mal das Marzipan riecht fröhlichâ, murmelte sie. Und das war in Bratonien ein echter Befund.
Falbala war in der Schule und im Schlossumfeld unterwegs. Kinder waren laut, ehrlich, direkt â aber nicht weihnachtlich. Nicht einmal ein bisschen. Ein MĂ€dchen musterte sie und sagte: âDu siehst mĂŒde aus.â âIch bin nicht mĂŒde, ich bin⊠konzentriertâ, behauptete Falbala. âAlso mĂŒdeâ, sagte das Kind und lief davon. Falbala entschied, dass sie Kinder heute nur begrenzt ertragen konnte.
Barney lief die halbe Stadt ab. Er analysierte Kinder, Eltern, Stimmungen â und je lĂ€nger er suchte, desto sicherer wurde ihm: Er sah viele Gesichter, aber keine Spur. âIch suche ein Funkelnâ, murmelte er, âund bekomme nur Sparflammen.â
Am frĂŒhen Nachmittag trafen sich die drei im Schlossflur wieder â nicht frustriert, nicht gereizt, nur still. Diese Art still, die entsteht, wenn sich jeder bereits denkt, was der andere sagen wird.
âNichtsâ, sagte Erna. âNichtsâ, bestĂ€tigte Falbala. âNichtsâ, schloss Barney und lieĂ sich gegen die Wand sinken.
Erna fuhr sich durchs Haar. âWir suchen blind. Wir brauchen Wissen. Alte Aufzeichnungen. Alles, was frĂŒhere Weihnachtszeiten ĂŒber die Maschine festgehalten haben.â Barney hob sofort den Blick. âDie Archive.â Falbala: âHier im Schloss?â Barney nickte. âWo sonst? Minze hat alles hier versteckt â chaotisch, aber grĂŒndlich.â Falbala lĂ€chelte schief. âDas ist kein Widerspruch?â âDochâ, sagte Barney. âAber bei Minze war das ĂŒblich.â
Die drei standen nun wieder fester. Ein Plan heiĂt manchmal: durchatmen können.
âIch gehe in die Archiveâ, sagte Barney. Erna: âIch gehe wieder auf den Markt. Ich will verstehen, was mit den Menschen los ist.â Falbala: âIch bleibe bei Hades. Ich werde ihn nicht bedrĂ€ngen⊠aber ich möchte, dass er merkt, dass er nicht allein durchs Schloss geistert.â
âAlso losâ, sagte Erna. Und sie gingen.
Die Archive lagen tief im Schloss, in RĂ€umen, die aussahen, als hĂ€tten sie sich selbst vergessen. Barney zog Kisten hervor, stapelte lose Zettel, ordnete, las, murmelte. âMinzeâ, sagte er zu einem chaotischen Blatt Papier, âdu hĂ€ttest wirklich Bibliothekarin werden sollen. In einem sehr geduldigen Land.â
Zwischen Skizzen, halbfertigen ReparaturplĂ€nen und Notizen wie âVielleicht nicht diesen Knopf drĂŒckenâ fand er schlieĂlich ein dĂŒnnes Buch â kaum gebunden, Eselsohren, Minzes Schrift.
Er öffnete es. Nicht erwartungsvoll. Eher wie jemand, der befĂŒrchtet, dass gleich ein weiterer Zettel mit kryptischen Pfeilen auftaucht.
Die ersten Seiten waren reine Minze: âDas funktioniert wahrscheinlich nicht, aber ich lasse es hier, falls es spĂ€ter nĂŒtzlich ist.â Dann technische Ăberlegungen, dann ein Witz, dann wieder Technik.
Und dann fand er den Absatz, der hÀngen blieb:
âIch war nie in der Lage, die Maschine vollstĂ€ndig zu reparieren. Doch eines wurde mir klar: Man darf nicht alles zu wörtlich nehmen, wenn es um sie geht.â
Barney starrte darauf. âNicht wörtlichâ, murmelte er. âNicht⊠wörtlichâŠâ Er las es erneut. âWas heiĂt das ĂŒberhaupt? Was nehme ich wörtlich? Alles? Nichts? Das Wort âKindâ? Oder das Wort âMaschineâ?â Er setzte sich auf die Tischkante. âMinze⊠warum konntest du nicht einmal im Leben geradeaus sprechen?â
Mit dem Tagebuch unterm Arm ging er nach oben. Nicht begeistert. Nicht hoffnungsvoll. Eher wie jemand, der einen neuen Knoten entdeckt hatte.
Erna und Falbala saĂen in der KĂŒche. Beide mit Kaffee, beide angespannt, aber nicht verzweifelt. Als sie Barney sahen, richteten sie sich ein StĂŒck auf.
Er legte das Buch auf den Tisch. âIch hab etwas. Ich verstehe es nicht, aber es fĂŒhlt sich⊠wichtig an.â Erna zog das Buch zu sich, las den Absatz langsam, sorgfĂ€ltig. Sie runzelte die Stirn, nicht verĂ€rgert â sondern nachdenklich. Falbala las ĂŒber ihre Schulter mit. Dann lieĂ sie sich zurĂŒckfallen. âAlso gut. Ein RĂ€tsel.â âEin schlechtes RĂ€tsel,â murmelte Barney. âMinze mochte RĂ€tsel,â sagte Falbala. âIch mag Kaffee,â erwiderte Barney. âDer löst wenigstens etwas.â
Erna schloss das Buch vorsichtig, als wĂ€re es empfindlich. âEs ist vage. Aber es ist ein Anfang.â âIch hĂ€tte gern ein Endeâ, sagte Falbala. Barney nickte. âAm besten eins mit einer Gebrauchsanweisung.â
In diesem Moment knarrte eine TĂŒr. langsam. Nicht drohend â eher wie ein Gedanke, der ausgesprochen werden will.
Hades stand im TĂŒrrahmen. Er wirkte nicht verloren. Nicht wĂŒtend. Nur ruhig. Viel zu ruhig. In seiner Hand: ein kleiner, schlichter Koffer.
âIch wollte es sagen, bevor ich es einfach macheâ, begann er leise. Drei Köpfe drehten sich zu ihm. Barneys Herz machte etwas Unangenehmes, das nach Sturzflug klang.
âIch gehe morgen Abendâ, sagte Hades. Keine Dramatik. Nur Wahrheit. âIch erledige noch, was nötig ist. Alles, was ich zugesagt habe. Und dann gehe ich. Aus Bratonien. Vor Weihnachten.â
Falbala stand auf. Nicht hektisch â eher, als hĂ€tte jemand den Boden unterm Tisch verschoben. âHadesâŠâ Er hob die Hand. âLasst es gut sein. Es ist nicht eure Aufgabe, mich festzuhalten.â Er blickte zum Boden. âIhr habt genug zu tun. Und⊠ich passe nicht mehr hierher.â
Dann ging er den Flur entlang. Nicht schnell. Nicht flĂŒchtend. Einfach entschlossen.
Als die TĂŒr zu seinem Zimmer ins Schloss fiel, blieb nur Stille zurĂŒck. Die Art Stille, die warmer Kaffee nicht retten kann.
Barney blickte auf das Tagebuch. Dann auf die TĂŒr. Dann wieder auf den Satz: âMan darf nicht alles zu wörtlich nehmen.â
âGroĂartigâ, flĂŒsterte er. âJetzt brenntâs an zwei Fronten.â
Und zum ersten Mal seit Tagen fĂŒhlten sie deutlich, wie schnell die Zeit wirklich davonlief.