Der dreizehnte Dezember begann mit einer Stille, die sich anfühlte wie Müdigkeit. Nichts ging kaputt, nichts passierte – und doch war da dieses Gefühl, dass die Luft im Schloss zu schwer war. Falbala starrte in ihren Becher, der Kaffee längst kalt. „Ich geh wieder zu ihr“, sagte sie schließlich.
Erna hob den Kopf. „Zur Hexe?“ „Ja.“ „Nach allem, was passiert ist?“ „Gerade deswegen.“ Barney stellte seine Tasse ab. „Du meinst, sie soll’s diesmal besser machen?“ „Nein“, antwortete Falbala. „Aber sie hat’s gesehen. Sie weiß, was sie zerstört hat. Und vielleicht weiß sie jetzt auch, wo wir suchen müssen.“ Hades rückte den Stuhl zurück. „Ich komm mit.“ Falbala sah ihn skeptisch an. „Du? Ich dachte, du redest nicht mehr mit ihr.“ „Ich red ja auch nicht. Ich beobachte.“ „Dann beobachte still.“ „Das ist der Plan.“ Erna seufzte. „Wenn ihr zwei euch gegenseitig überlebt, bringt wenigstens Kaffee mit zurück.“ „Wird gemacht“, sagte Hades, griff nach seiner Jacke und folgte Falbala hinaus.
Der Weg in den Soßenwald war feucht und grau. Nebel hing zwischen den Bäumen, und selbst die Krähen schwiegen. Falbala ging schnellen Schrittes, als könne sie die Kälte abhängen. Hades folgte, die Hände in den Taschen, ruhig, aber aufmerksam. „Ich sag’s dir gleich“, murmelte er, „wenn sie wieder Tee anbietet, dreh ich um.“ Falbala lachte leise. „Nach dem letzten Mal wär das verständlich.“ „Vielleicht hat sie gelernt.“ „Vielleicht haben wir gelernt“, entgegnete sie. „Das wär schlimmer.“ „Dann sag lieber gar nichts.“ „Ich denk nur laut.“ „Dann mach’s leiser.“ Sie grinsten beide – kurz, ehrlich, erleichtert.
Das Haus der Hexe stand dort, wo der Wald dichter wurde. Schief, verlässlich, mit Rauch, der mehr nach Gewohnheit roch als nach Feuer. Noch bevor Falbala klopfen konnte, öffnete sich die Tür. „Ich habe euch erwartet“, sagte die Hexe. Hades zog eine Augenbraue hoch. „Sicher?“ „Nein“, erwiderte sie gelassen, „aber es klingt besser, als zu sagen: ich habe euch gehört.“ Falbala nickte leicht. „Dann weißt du ja schon, warum wir hier sind.“ „Ich kann’s mir denken“, sagte die Hexe und trat beiseite. „Kommt rein, ihr seht aus, als hättet ihr die Nacht mit Sorgen verbracht.“ „Fast“, meinte Hades. „Sie redet, ich hör zu. Das zieht sich.“ „Das nennt man Loyalität“, sagte die Hexe und schloss die Tür.
Innen war es warm, auf die pragmatische Art. Kein gemütliches Chaos, kein Duft von Kuchen – nur Holz, Kräuter, Metall und Leben. Die Hexe stellte eine Kanne Kaffee auf den Tisch. „Kein Tee. Ich lern manchmal.“ Falbala lächelte. „Das glaub ich dir sogar.“ Die Hexe erwiderte das Lächeln, leicht schief. „Vorsicht – mir zu glauben war schon immer gefährlich.“ Dann setzte sie sich. „Also, Falbala – was suchst du diesmal?“
Falbala atmete tief durch. „Du weißt, was passiert ist. Der Kollektor liegt in drei Teilen. Und keiner von uns kann ihn reparieren.“ „Ich erinnere mich“, sagte die Hexe ruhig. „Mehr, als mir lieb ist.“ „Minze hat damals geschrieben, dass nur ein echtes, kindliches Lachen ihn wieder ganz machen kann. Wir müssen dieses Kind finden – das, das Weihnachten im Herzen trägt.“ Die Hexe sah sie lange an. „Ein schöner Gedanke. Und ein schwieriger.“ „Kannst du helfen?“ „Ich kann fragen“, antwortete die Hexe leise. „Aber Magie zeigt selten, was man sehen will. Manchmal antwortet sie, manchmal tut sie nur so.“ „Ich nehm jede Antwort, die sich blicken lässt.“ „Dann setzen wir uns“, sagte die Hexe. „Und hoffen, dass sie zuhört.“
Sie nahm eine flache Schale aus Kupfer, goss Wasser hinein und legte drei silberne Blätter dazu. „Sie sind alt“, erklärte sie. „Sie reagieren auf Freude. Wenn irgendwo ein Funken davon lebt, zeigen sie es.“ Falbala nickte. „Dann los.“ Die Hexe schloss die Augen, flüsterte kaum hörbare Worte. Die Luft im Raum wurde dichter, wie angehalten. Das Wasser begann sich zu kräuseln – erst zart, dann stärker. Ein feiner Schimmer kroch über die Oberfläche, als würde das Licht selbst atmen. Hades trat näher. „Ist das normal?“ „Ich weiß es nicht“, sagte die Hexe ruhig. „Es antwortet.“
Plötzlich spannte sich ein kurzer Blitz aus der Schale, leise, hell – und traf Hades mitten in der Brust. Er zuckte zurück, griff nach dem Tisch. Falbala fuhr erschrocken auf. „Hades!“ „Alles gut“, sagte er, schwer atmend. „Nur… warm. Kurz.“ Die Hexe stand still, die Augen auf das Wasser gerichtet. Der Schimmer war verschwunden, das Wasser wieder klar. „Das sollte nicht passieren“, sagte sie leise. „Ich hab nichts gerufen.“ „Dann war’s wohl ein Fehlschlag“, murmelte Falbala. „Vielleicht“, sagte die Hexe und klang nachdenklich. „Oder nur eine Antwort, die wir noch nicht verstehen.“ Hades richtete sich auf. „Ich hab nichts gespürt. Also kein Schaden.“ „Dann ist das schon mehr, als ich erwartet hab“, erwiderte die Hexe, und in ihrer Stimme lag echte Erleichterung. „Tut mir leid, Falbala. Mehr kann ich heute nicht tun.“ Falbala nickte. „Du hast’s versucht. Das zählt.“ „Nur in Märchen“, sagte die Hexe still. „Aber vielleicht ist das ja eines.“
Als sie draußen standen, war der Nebel dichter geworden. Falbala schwieg eine Weile, dann sagte sie: „Ich dachte, diesmal klappt es.“ „Hat’s doch“, meinte Hades. „Wir leben.“ „Das war nicht der Plan.“ „Dann war’s ein guter Zufall.“ Sie lächelte müde. „Guter Zufall… Klingt wie ein Widerspruch.“ „Wie wir beide“, sagte Hades. Sie grinste, und das Grau um sie herum wurde ein bisschen heller.
Drinnen saß die Hexe noch immer am Tisch, den Blick auf die Schale gerichtet. Das Wasser war still. Nach einer Weile sagte sie leise: „Manche Antworten kommen, bevor man die Frage versteht.“ Dann blies sie die Kerze aus.