Der zwölfte Dezember begann mit einem Feuer, das noch nicht brannte. Die Glut vom Vorabend war erloschen, und das Holz, das jemand sorgfältig aufgeschichtet hatte, wartete geduldig in seinem Korb. Die Fenster waren beschlagen, der Atem stand leicht in der Luft – nicht kalt, aber ehrlich. Im Kaminzimmer roch es nach Kaffee, altem Leder und ein wenig nach Winter, wie er in Bratonien nun einmal war: nie laut, aber stets spürbar.
Erna war die Erste, die den Raum betrat. Sie trug einen alten Pullover mit abgewetzten Ärmeln, hielt eine dampfende Tasse fest umklammert und bewegte sich, als wüsste sie genau, wohin – obwohl sie nicht sagen konnte, warum. Sie legte ein neues Holzscheit in die Feuerstelle, zündete es an und setzte sich dann auf das breite Sofa am Fenster. Der Kaffee war stark, bitter – genau richtig.
Falbala kam als Nächste. Ohne Schürze, ohne Kommentare, mit einem Ausdruck, der irgendwo zwischen Müdigkeit und Zögern hing. Sie setzte sich einfach auf den Teppich vor dem Kamin, zog die Beine an und sagte nichts. Nur der Blick verriet, dass sie nachdachte. Vielleicht über das, was war. Vielleicht über das, was fehlte.
Barney folgte kurz darauf, die Haare noch feucht vom schnellen Waschbeckenbesuch, das Hemd schief geknöpft, aber die Brille geputzt. Er hatte eine zweite Kanne Kaffee dabei, stellte sie auf den kleinen Tisch und murmelte ein kaum hörbares „Morgen“. Niemand widersprach.
Hades ließ auf sich warten. Es war nichts Ungewöhnliches mehr. Seit Tagen schon bewegte er sich langsamer, kam später, sagte weniger. Als er schließlich eintrat, war das Feuer schon entfacht, der Raum durchwärmt, und die anderen saßen in einem lockeren Kreis – nicht planvoll, aber verbunden. Er nahm sich eine Tasse, setzte sich auf den Sessel in der Ecke und sah ins Feuer, als müsste er sich erst mit der Gegenwart anfreunden.
Lange sagte niemand etwas. Kein Redebedarf. Nur Atmen, Trinken, Erinnern. Dann war es Erna, die das Schweigen zuerst zerschnitt – nicht mit einem Plan, sondern mit einem Gefühl. „Vielleicht“, sagte sie leise, „haben wir falsch gesucht.“
Barney hob den Blick. „Falsch?“ „Nicht nach außen. Sondern innen. Vielleicht wollten wir etwas finden, das wir selbst vergessen haben.“ Falbala zog die Decke enger um ihre Schultern. „Du meinst… was Weihnachten ist?“ „Für uns, ja. Für jeden von uns.“
Die Stille, die folgte, war eine andere – nicht leer, sondern lauschend. Dann räusperte sich Barney. Nur kurz, als wolle er sich selbst um Erlaubnis bitten. „Ich erinnere mich an ein Jahr… ich war vielleicht zehn. Die Zeiten waren nicht leicht. Mein Vater hatte die Arbeit verloren, meine Mutter war oft still. Kein Geld, kein Baum, kein Glanz. Aber sie hat eine Lichterkette auf dem Boden ausgelegt – kreisförmig. Und wir saßen mittendrin.“ Er lächelte schwach. „Es war warm. Nicht im Raum – aber in uns. Das war Weihnachten.“
Falbala schnaubte leise. „Ich hab als Kind nie an den Weihnachtsmann geglaubt. Ich war eher das zynische Kind mit zu vielen Fragen. Aber da war dieser Moment, ich war sieben… meine Mutter hatte ihren Job verloren, mein Vater war weg, und wir hatten nichts. Gar nichts. Kein Geschenk, nicht mal Süßigkeiten. Aber sie hat die Küche geputzt, Kerzen aufgestellt und uns in selbstgestrickte Decken gewickelt. Und dann hat sie eine Geschichte erzählt. Aus dem Kopf, ohne Buch. Über eine Hexe, die den Winter verscheuchen wollte, weil sie den Frühling vermisste. Und am Ende stellte sich heraus, dass sie selbst der Frühling war.“ Falbala sah ins Feuer. „Ich hab das nie vergessen. Weil ich damals das erste Mal dachte: Vielleicht reicht das. Vielleicht reicht Nähe.“
Erna nickte langsam. „Bei uns gab es immer Regeln. Wann der Baum aufgestellt wird, wie die Plätzchen heißen, wer wann was sagt. Und ich hab das gehasst. Bis ich eines Abends allein im Wohnzimmer stand, das Licht aus war, und der Baum plötzlich… anders wirkte. Nicht mehr wie Pflicht, sondern wie Versprechen.“ Sie trank einen Schluck. „Da war kein großes Ereignis. Kein Geschenk, kein Besuch. Nur Licht. Und ich. Und der Moment, in dem ich dachte: Vielleicht bedeutet das alles nur, dass wir einmal im Jahr nicht aufgeben.“
Wieder entstand Stille. Eine tiefere diesmal. Und dann – fast widerwillig – hob Hades den Blick. Seine Stimme war ruhig, aber nicht hart. „Ich hatte nie ein richtiges Weihnachten. Nicht, bis ich nach Bratonien kam.“
Erna sah ihn an, Barney hielt inne mit der Tasse in der Hand. Niemand sprach. Nicht aus Höflichkeit – sondern aus Respekt.
„Früher war das nur ein Datum. Kalendersprüche auf Werbetafeln. Musik, die zu laut war. Menschen, die sich beeilt haben, fröhlich zu wirken. Ich hab mich davon ferngehalten. Ich fand’s… leer. Vielleicht auch, weil es in mir drin nichts gab, das sich danach gesehnt hätte.“
Er lehnte sich zurück. Das Licht des Kamins warf Linien auf sein Gesicht. „Als ich nach Bratonien kam, war ich Techniker. Extern, Austausch, zwei Wochen. Irgendwas im Westflügel war defekt, irgendwas mit den Aufnahmeräumen. Ich war zu spät, genervt, hungrig. Und dann – das werde ich nie vergessen – stand ich im Flur. Ich wollte gerade fluchen. Da hab ich es gehört.“
Er hielt inne. Nicht, weil er nach Worten suchte – sondern weil der Moment noch in ihm saß.
„Jemand hat gelacht. Kein großes Lachen. Kein Jubel. Nur ein warmer, heller Laut, ganz leise – wie ein Echo hinter einer Tür. Es war so echt, dass mir fast das Werkzeug aus der Hand gefallen wäre. Ich weiß nicht, wer es war. Ich hab nicht nachgeschaut. Ich bin einfach stehen geblieben. Und hab zugehört.“
Er senkte den Blick, lächelte schmal. „Ich hab in dem Moment nichts verstanden. Aber ich hab gewusst, dass da etwas ist. Etwas, das ich nicht kenne, aber kennen will.“
„Am nächsten Tag hat mir jemand Kaffee angeboten. Einfach so. Ohne Grund, ohne Gespräch davor. Erna, du warst das. Du hast gesagt: 'Hier. Ist frisch.' Und dann hast du den Raum verlassen.“
Er sah auf, ganz ruhig. „Ich hab diesen Becher genommen wie etwas, das nicht mir gehört. Und trotzdem war’s meiner. Bratonien hat mir nichts erklärt. Es hat mich eingeladen. Und irgendwann, ohne dass ich es bemerkt hab, war ich mittendrin. Ich war… angekommen.“
Niemand sagte etwas. Es war nicht nötig. Weil das, was Hades gesagt hatte, keine Geschichte war – sondern ein Bekenntnis. Eine leise Wahrheit über Wärme, Zugehörigkeit und den Moment, in dem selbst ein Zweifler spürt, dass er gemeint ist.
Draußen war es inzwischen hell geworden. Der Himmel war wolkenverhangen, das Licht blass – als würde selbst das Wetter noch nach Antworten suchen. Der Morgen hatte begonnen. Und obwohl sie es nicht gesagt hatten, wussten alle vier: Heute hatten sie etwas gefunden. Kein Kind. Keine Lösung. Aber vielleicht das, was sie gebraucht hatten, um weiterzugehen.
Hades war der Letzte, der den Raum verließ. Er stellte seine Tasse ab, legte noch ein Holzscheit ins Feuer – und sagte leise, mehr zu sich selbst als zu irgendwem: „Ich glaub, ich weiß jetzt, worum es geht.“
Danach sprach niemand mehr davon. Nicht laut. Nicht gleich. Aber der Rest des Tages verlief anders – nicht, weil etwas geschah, sondern weil nichts mehr fehlte. Die Geräusche klangen vertrauter, das Licht lag wärmer auf den Fenstern, und der Geruch von Kaffee schien plötzlich mehr zu sein als nur Kaffee.
Später, beim Aufräumen, blieb Falbala kurz stehen. Sie hob den Kopf, sog die Luft ein – und runzelte leicht die Stirn. „Riecht das nach… Nelken?“ Barney, der nichts gerochen hatte, sah kurz auf. „Vielleicht…“ Aber sie sagte nichts weiter. Und auch niemand anders stellte Fragen. Denn was auch immer dieser Hauch war – er fühlte sich richtig an. Als hätte Bratonien zum ersten Mal seit Tagen wieder leise eingeatmet.