Der sechzehnte Dezember begann mit einer Wiederholung, die keine mehr sein wollte. In der Küche von Schloss Bratonien hing eine Stille, die nicht leer war – sondern erschöpft. Erna stand am Fenster, die Tasse zwischen den Händen, der Blick hinaus in den grauen Vormittag. Barney saß hinter ihr am Tisch, die Arme aufgestützt, ein zerknittertes Blatt Papier vor sich, das einmal ein Plan hatte werden sollen.

„Agnes hat gesagt: Weihnachten war früher nichts, was man gebaut hat. Es war etwas, das einfach entstand“, sagte Erna, ohne sich umzudrehen. „Kein Programm, kein Ablauf, keine Dramaturgie. Es ist passiert, weil niemand etwas beweisen musste.“

Barney antwortete nicht sofort. Er drehte seinen Stift langsam zwischen den Fingern, als könnte er damit eine Lücke im Denken schließen. „Ich weiß. Du hast mir das alles erzählt.“ „Und trotzdem sitzt du immer noch da, als sei es ein Puzzle, das nur noch das eine Teil braucht.“

Sie drehte sich um, lehnte sich an die Fensterbank. „Ich hab’s dir erklärt. Was Agnes gesagt hat. Was Konrad erinnert hat. Dass es um Verbindung geht. Um das, was entsteht, wenn Menschen wirklich da sind. Und du… du reagierst, als hätte ich dir ein Märchenbuch vorgelesen.“

Barney hob den Blick, ernst. „Weil ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll, Erna. Ich höre dir zu, wirklich. Aber was sollen wir tun? Uns hinsetzen und hoffen, dass irgendwann ein Kind auftaucht, das lacht und alles heilt?“

„Vielleicht.“ Ihre Stimme war weich, aber voller Schärfe. „Vielleicht müssen wir genau das tun. Warten. Oder suchen. Oder zuhören. Aber was du machst – das hier, dieses sture Analysieren – ist der Versuch, Kontrolle zu behalten. Und Kontrolle ist das Gegenteil von Vertrauen.“

Er schwieg. „Ich weiß, dass du denkst, du hilfst damit. Und ich weiß auch, dass es deine Art ist, mit Unsicherheit umzugehen. Aber Barney… es geht nicht um dich. Und nicht um mich. Es geht darum, dass wir irgendetwas verloren haben. Und es nicht zurückbekommen, indem wir es vermessen.“

Sie kam einen Schritt näher. Ihre Stimme wurde leiser. „Weißt du, was Konrad gesagt hat? Dass früher jeder gewusst hat, was er geben kann. Heute wissen alle nur noch, was ihnen fehlt.“

Barney sah sie an. Länger als sonst. Und dann ließ er den Blick wieder sinken. „Ich kann damit nichts anfangen“, murmelte er.

Es war kein Trotz in seiner Stimme. Kein Widerstand. Nur ein Eingeständnis – eines, das sie nicht tröstete. Erna trat zurück. „Dann bin ich wohl fertig für heute.“ Sie nahm ihre Tasse, ging zur Tür, blieb dort noch einen Moment stehen. „Ich wünsche mir, dass du irgendwann verstehst, dass nicht alles verstanden werden muss.“ Dann ging sie.

Die Tür fiel nicht laut ins Schloss. Aber in Barney hallte sie nach. Er saß eine Weile da, rührte sich nicht. Dann stand er langsam auf, griff seine Jacke, und verließ die Küche durch den Gang zum Archiv.

Das Archiv roch nach kaltem Papier, nach vergessenen Gedanken. Es war kein warmer Ort – nicht vom Licht, nicht vom Tonfall der Dinge, die dort lagerten. Barney ging langsam, ließ die Finger über verstaubte Kartons und Metallkanten gleiten. Er suchte nichts. Aber etwas fand ihn.

Eine flache, beschriftungslose Kiste. Unscheinbar. Darin lagen alte Zeichnungen – nicht geordnet, nicht geschützt, nicht beschriftet. Kindermalereien. Ein Schloss mit Flügeln. Ein Weihnachtsmann mit drei Augen. Ein Kamin, aus dem Herzen stiegen. Und auf einer davon: Zwei Hände, die ein Licht weiterreichen. Die Linien waren krumm, die Farben zu stark – aber das Gefühl war makellos. Unmittelbar. Offen.

Barney setzte sich auf den Boden, das Bild in der Hand. Die Kälte der Steine kroch ihm durch die Hose, aber er spürte sie kaum. Er blickte auf das Papier, als hätte es ihm eine Sprache offenbart, die er längst verlernt hatte. Keine Analyse. Keine Struktur. Nur das, was ein Kind gesehen hatte, wenn es an Weihnachten dachte.

Vielleicht lag hier der Fehler. Vielleicht war er all die Tage auf der Suche nach einem Schema gewesen, das es nie gab. Vielleicht war Erna nicht nur eine Erinnerung voraus – sondern eine Einsicht. Und vielleicht, nur vielleicht, hatte sie ihn trotzdem nicht aufgegeben.

Barney stand eine Weile vor der Tür, das Bild in der Hand, bevor er anklopfte. Kein Zögern – nur dieser Moment, in dem man sich fragt, wie man eine Wahrheit übergibt, die man selbst gerade erst verstanden hat.
Erna öffnete. Sie hatte sich nicht umgezogen, nicht geschlafen, nicht versucht, so zu tun, als wäre der Tag vorbei. Der Abend war ein Stillstand geworden – und Barney trat mitten hinein.

Er hielt ihr das Bild hin. Keine große Geste, kein Kommentar. Nur das leicht zerknickte Papier zwischen ihnen.
„Ich war im Archiv“, sagte er. „Eigentlich wollte ich nichts finden.“
Erna nahm das Bild, sah es sich an, ohne zu blinzeln. „Hast du aber.“
„Hab ich“, nickte Barney. „Aus Versehen. Wie fast alles, was funktioniert.“

Sie setzte sich wieder auf den alten Sessel. Barney ließ sich aufs Sofa fallen, seufzte wie jemand, der sich selbst überrascht, dass er noch hier ist.
„Weißt du“, begann er, „ich hab immer geglaubt, das Herz von Weihnachten sei… na ja, eine Art mechanischer Mythos. Zahnräder, Scharniere, vielleicht ein kleiner Hitzesensor – eben etwas, das man mit dem richtigen Werkzeug zum Laufen bringt.“
Erna sagte nichts. Sie kannte diese Art von Monolog. Früher hatte sie ihm dabei oft widersprochen. Heute ließ sie ihn reden.
„Aber dieses Ding da“, fuhr er fort und deutete aufs Bild, „das hat mir eins gezeigt: Vielleicht funktioniert Weihnachten ganz anders. Vielleicht muss man’s gar nicht verstehen. Vielleicht muss man’s nur sehen. Und zwar mit anderen Augen.“
„Kinderaugen?“ fragte sie ruhig.
„Wahrscheinlich. Oder mit dem, was von unseren noch übrig ist.“

Erna strich mit der Hand über das Papier, langsam, als könne man Erinnerungen glätten wie Eselsohren.
„Das ist also deine Wahrheit?“
„Meine Wahrheit heute“, sagte Barney. „Morgen kann sie schon wieder anders aussehen. Aber immerhin hab ich jetzt eine.“
Sie nickte. „Und ich hab meine.“
„Und erstaunlicherweise haben sich unsere heute nicht geprügelt.“

Eine kurze Pause entstand. Nicht unangenehm. Nur schwer genug, dass sie beide spürten, wie weit sie gekommen waren an diesem Tag – und wie knapp sie daran vorbeigeschrammt waren, sich zu verlieren.
„Vielleicht“, begann Erna, „gibt es gar nicht die eine richtige Wahrheit. Vielleicht gibt es nur verschiedene Perspektiven auf dasselbe Gefühl.“
„Oder auf denselben Schrotthaufen“, ergänzte Barney. „Je nachdem, wie man guckt.“
Sie musste lachen – leise, aber ehrlich. Barney sah sie kurz an, dann entspannte sich seine Stirn, wie ein Raum, in dem das Licht wieder angeht.
„Danke“, sagte er knapp.
„Wofür?“
„Dafür, dass du nicht aufgehört hast, mit mir reden zu wollen. Auch wenn ich’s nicht gerafft hab.“
„Noch nicht“, verbesserte sie.
„Stimmt. Noch nicht.“

Und in diesem kleinen Moment, zwischen Lachen und Stille, zwischen Bild und Bedeutung, begriffen sie beide: Vielleicht bestand die eigentliche Magie nicht in der Lösung – sondern darin, gemeinsam eine zu suchen, ohne aufzuhören, einander zuzuhören.
Ein Anfang. Kein Wunder. Aber echt.

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