Der siebzehnte Dezember begann still.
Kein Vogelruf, kein Schritt auf dem Gang, nur das ferne Summen der Leitungen irgendwo im Mauerwerk.
Falbala lag wach, die Decke bis zum Kinn gezogen, und starrte an die dunkle Zimmerdecke über sich.
Der Besuch bei der Hexe – vier Tage war er her, doch er ging ihr nicht aus dem Kopf.
Das Wasser in der Kupferschale, der Blitz, Hades’ Schreck, das Schweigen danach –
all das hing ihr noch in den Knochen wie eine zu spät gelernte Lektion.

Sie setzte sich auf, schlang die Decke um die Schultern und sah zum Fenster.
Der Himmel war trüb, ein leises Grau, das nicht weichen wollte.
Irgendwo im Schloss klapperte Metall – Barney, vermutlich.
Und sie wusste: Es war Zeit, zu reden.
Nicht mit der Hexe. Nicht mit sich selbst.
Mit Erna. Und mit Barney.

In der Küche hing noch der Geruch von starkem Kaffee und dem letzten Versuch, den Tag geordnet zu beginnen.
Erna saß am Tisch und schob mit dem Stift Aufgaben auf morgen, während Barney versuchte, seine Notizen zu entziffern, ohne sich selbst zu widersprechen.
Falbala trat barfuß ein, die Haare wild, der Blick klar – der Ausdruck im Gesicht ließ nichts Gutes erahnen.
„Ich geh wieder zu ihr“, sagte sie, ohne den Umweg über ein Guten Morgen zu nehmen.
Es klang wie ein Befehl, war aber vermutlich als Mitteilung gemeint.

Erna sah auf. „Zur Hexe?“
Falbala nickte. „Diesmal klappt’s. Muss einfach.“
Barney sah sie über den Rand seiner Tasse hinweg an. „Du meinst den Suchzauber? Diesen hochexplosiven Erkenntnisakt?“
„Genau den. Nur ohne Explosion, wenn’s geht.“
„Du meinst, weil’s beim letzten Mal so gut lief?“
„Ich nenn’s Lernkurve“, sagte Falbala. „Steil. Aber immerhin vorhanden.“

Erna legte den Stift weg. „Du weißt, dass Hades das nicht gut fände.“
„Hades ist heute bei seinen Eltern und hat dort sicher auch genug Magie – nur in Form von Familiengesprächen.“
Barney seufzte. „Und wenn’s wieder kracht?“
„Dann komm ich eben als Rauchzeichen zurück.“
„Beruhigend“, murmelte Erna.

Falbala griff nach dem alten Schal, der noch nach Tannennadeln roch, und warf ihn sich um.
„Ich will’s nicht reparieren. Ich will’s verstehen. Aber dazu muss ich’s erst noch mal versuchen. Ohne Leute, die mir dazwischenfunken. Oder mir vorrechnen, wie unwahrscheinlich alles ist.“
Sie sah Barney an. Der hob die Hände. „Ich hab nicht mal was gesagt.“
„Genau. Und das macht mir Sorgen.“

Sie zog die Stiefel an, nickte beiden kurz zu und blieb noch einen Moment in der Tür stehen.
„Wenn’s klappt, bin ich vor dem Abend zurück.“
„Und wenn nicht?“, fragte Erna.
„Dann schickt mir eine Thermoskanne und eine Entschuldigung für die Hexe. Vielleicht auch ein Stück Kuchen.“
Dann war sie weg. Und in der Küche blieb nur noch der Geruch von Kaffee – und die Ahnung, dass es kein ganz gewöhnlicher Tag werden würde.

Der Soßenwald lag still. Die Pfade waren feucht, aber nicht rutschig, und Falbala kannte den Weg inzwischen gut genug, um keine falschen Abzweigungen mehr zu nehmen. Einmal blieb sie kurz stehen, als ein Vogel aufschreckte – nicht aus Angst, sondern weil sie sich erschrak, dass sie sich diesmal nicht erschrak. Dann ging sie weiter, bis das Dach des Hexenhauses durch die Bäume schimmerte.

Die Tür war angelehnt, wie immer. Kein Rauch aus dem Schornstein, kein Licht im Fenster, aber Falbala klopfte trotzdem. „Ich komm rein!“, rief sie, was mehr eine Warnung für sich selbst war als für irgendwen im Inneren. Die Hexe saß, wie beim letzten Mal, auf dem Boden vor dem Ofen. Sie hatte diesmal einen Zopf geflochten – oder versucht es zumindest. Der Kessel war leer, aber der Raum roch nach Pfefferminze und nasser Erde.

„Du schon wieder“, sagte die Hexe, ohne aufzusehen.
„Ich will, dass wir’s nochmal versuchen“, sagte Falbala direkt. Die Hexe drehte sich langsam zu ihr um. „Versuchen wir was nochmal? Den Teil, bei dem ich fast einen Blitz ins Dach gejagt hab? Oder den, bei dem du mir hinterher nicht mehr geantwortet hast?“ „Den Teil mit dem Zauber“, erwiderte Falbala ruhig. „Ich glaub, es könnte diesmal funktionieren.“ „Süße, das sagen Leute auch beim dritten Pfannkuchen, und da brennt dann die Pfanne.“

Die Hexe stand auf, klopfte sich die Hände an der Schürze ab. „Ich kann’s machen, wenn du willst. Kupfer hab ich genug. Und meine Blätter haben sich auch noch nicht beschwert.“ Falbala hob die Augenbraue. „Aber“, fuhr die Hexe fort, „ich hab drüber nachgedacht. Und wenn ich ehrlich bin, seh ich keinen Sinn darin.“ „Du willst’s nicht tun?“ „Ich hab nicht gesagt, dass ich’s nicht tue. Ich sag nur: Es bringt nix, mit verbundenen Augen nach einem Schatten zu greifen.“

Falbala schwieg. Die Hexe ging zum Regal, wühlte in ein paar Gläsern. „Dieses ganze 'Kind mit Weihnachten im Herzen' – das ist doch ein Satz aus einem Märchen, kein Auftrag.“ „Es war alles, was uns geblieben ist“, sagte Falbala leise. „Dann wird’s Zeit, dass wir rausfinden, was es eigentlich heißen soll.“ Die Hexe drehte sich um. In der Hand hielt sie einen kleinen, grauen Stein, der in einem Filztuch eingewickelt war. „Ich könnte einen anderen Zauber sprechen. Keinen Suchzauber, eher… einen Klärzauber.“ „Klingt nach einer Salbe“, murmelte Falbala. Die Hexe grinste. „Tut manchmal auch weh. Aber hinterher weißt du, woran’s liegt.“ „Und du glaubst, das bringt uns weiter?“ „Ich weiß nur, dass’s ehrlicher wär.“

Falbala zögerte, dann nickte sie langsam. „Also gut. Dann machen wir deinen… Erkenntnisquark.“ „Zauber“, verbesserte die Hexe. „Quark ist für Wunden. Das hier ist für den Kopf.“

„Den wirfst du mir dafür aber nicht an den Kopf?“, fragte Falbala misstrauisch, den Blick auf den grauen Stein gerichtet. „Nur wenn du darauf bestehst“, erwiderte die Hexe trocken, „aber ich würde es lieber vermeiden. Der Stein ist einfach zu hübsch. Und dein süßes Köpfchen möchte ich nicht bluten sehen.“ Sie machte eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu: „Sonst müsste ich es ja vielleicht sogar noch nähen. Eine Tasse hiervon reicht.“ Mit einem Nicken deutete sie auf eine unscheinbare, dampfende Kanne am Rand des Tisches.

Falbala blinzelte. „Das ist… Kaffee?“ Die Hexe lächelte. „Natürlich ist das Kaffee. Was hast du erwartet – Drachenblut?“ Falbala wollte etwas sagen, aber die Hexe hob bereits den Zeigefinger. „In jeder heißen Tasse Kaffee liegt hier in Bratonien eine Wahrheit. Man muss nur hinsehen. Und zwar richtig.“

Sie goss langsam eine Tasse ein, reichte sie Falbala und sagte leise: „Wenn es funktioniert, wirst du Bilder sehen. Keine großen Visionen, keine schreienden Antworten. Nur… das, was ist. Manchmal ruhig. Manchmal schief. Aber immer ehrlich.“ Falbala nahm die Tasse, roch daran, zögerte einen Moment – dann trank sie einen Schluck. Die Hexe legte ihre Hand auf den Stein und flüsterte eine Formel, die klang, als hätte sie nie dafür gedacht, laut gesprochen zu werden.

Der Dampf aus der Tasse kräuselte sich – erst langsam, dann in feinen Spiralen, die nicht mehr wie Dampf wirkten. Falbalas Blick wurde leer, nicht erschrocken, sondern offen. Sie sah nicht mehr die Hütte, nicht die Hexe – sie sah Bratonien. Nicht im Jetzt, sondern im Wandel: den Markt im Frühling, die Felder im Sommer, die stillen Straßen im Herbst. Die ersten Lichter im Fenster, wenn der Winter kam. Die Art, wie sich Menschen begegneten, je nach Zeit und Wetter. Häuser, Hände, Stimmen. Manchmal lachte jemand. Manchmal sagte niemand etwas, und es war trotzdem gut so.

Erst war sie verwirrt. Was hatte das mit ihrer Frage zu tun? Doch dann begriff sie es langsam – wie durch ein beschlagenes Fenster, das jemand leise abwischt. Es ging nicht um ein Kind. Es ging nicht um ein Ziel. Es ging um das Gefühl, das blieb, wenn alles andere ging. Um das, worauf man sich freuen konnte, selbst im August. Um Frieden, um Wärme, um das leise Wissen, dass man nicht allein ist, wenn die Lichter angehen.

Es dauerte einen Moment, bis Falbala wieder ganz da war. Sie hielt die Tasse noch immer in beiden Händen, als wolle sie sich daran festhalten, während der Dampf sich allmählich verzog. Die Hexe beobachtete sie aufmerksam, sagte aber nichts. Erst als Falbala leise seufzte, brach sie das Schweigen. „Und? Große Erleuchtung? Ein Kind mit Weihnachtsmütze auf einem fliegenden Schwein?“ „Nein“, sagte Falbala ruhig. „Bratonien. Im Wandel. Die Menschen. Das Jahr. Alles, was dazwischenliegt.“ Die Hexe schürzte die Lippen. „Klingt... hübsch.“

Falbala sah sie an. „Du glaubst nicht, dass das die Antwort war.“ Die Hexe zuckte mit den Schultern. „Ich glaub dir, dass du das gesehen hast. Ich glaub auch, dass es dir was bedeutet.“ Sie nahm ihr den Rest der Tasse ab, stellte sie auf den Tisch und sah sie dann wieder an. „Aber ehrlich gesagt – ich denke, der Zauber ist einfach schiefgegangen. Nicht mit Blitz und Feuerwerk. Eher so… leise daneben. Wie wenn man Aufklärungszauber spricht, obwohl man um Klärung bittet.“ „Also wie ein Zettel mit der falschen Frage drauf?“ „Exakt. Magie ist da manchmal… pingelig.“

Falbala lächelte. „Macht nichts. Ich hab trotzdem eine Antwort bekommen. Vielleicht nicht die richtige. Aber eine gute.“ Die Hexe musterte sie. Dann nickte sie langsam. „Du bist eigenartig“, murmelte sie. „Du hast mich noch nicht gesehen, wenn ich versuche Plätzchen zu backen.“ Falbala zog sich den Schal enger und trat zur Tür. „Danke, dass du’s versucht hast. Ehrlich.“ „Danke, dass du nicht geplatzt bist“, erwiderte die Hexe. „Das ist mir auch mal ganz angenehm.“ „Bis bald?“ „Wenn’s sein muss.“

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Draußen raschelte der Wind leise durch das Geäst, und Falbalas Schritte verloren sich langsam zwischen den Bäumen.

Die Hexe blieb noch einen Moment stehen, dann seufzte sie. „Ich mag diese quirlige kleine Nudel.“ Sie nahm die Kanne, schnupperte daran, und goss sich selbst eine Tasse ein. „Was den Zauber angeht, ich weiß ja nicht. Ich hätte doch Tee nehmen sollen. Aber diese Bratonien immer mit ihrem Kaffee.“ Sie kostete. „Wobei… er ist verdammt gut.“ Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht, während sie sich mit der Tasse auf ihren Platz am Ofen zurückzog.

Als Falbala zurück ins Schloss kam, war es später Nachmittag. Der Himmel war klar, die Luft ruhig. In der Küche roch es nach Zimt und verbranntem Rand. Erna stand am Herd, der Teig weigerte sich noch immer. Barney faltete ein Geschirrtuch zu etwas, das wohl eine Serviette sein sollte.

„Sie lebt noch“, sagte er, als Falbala eintrat. „Und sie brennt nicht. Gute Bilanz.“
Falbala trat näher, stellte ihre Tasche ab. „Ich hab den Zauber überstanden. Oder besser gesagt: er war keiner. Nicht der, den ich erwartet hatte.“
Erna wandte sich um. „Was ist passiert?“

„Ich hab sie gefragt, ob sie es nochmal versuchen kann“, begann Falbala. „Sie hat gefragt, ob wir überhaupt wissen, was wir suchen. Ob es reicht, einfach nur nach einem Kind zu suchen. Ich hab gesagt, dass ich es trotzdem nochmal will. Also hat sie mir Kaffee eingeschenkt. Und gesagt, wenn es klappt, werde ich etwas sehen. Dann hat sie gezaubert.“

Falbala setzte sich an den Tisch, goss sich eine Tasse ein.
„Ich hab Bratonien gesehen. Nicht einen Ort, sondern viele. Nicht einen Moment, sondern ein Jahr. Menschen auf den Straßen. Fenster. Essen. Feste. Regen. Stille. Es war alles da – aber nichts davon war eine Antwort.“

„Und trotzdem?“, fragte Barney.
„Trotzdem war’s wichtig“, sagte Falbala. „Weil ich gemerkt hab, dass ich die falsche Frage gestellt hab. Dass es nicht darum geht, etwas zu finden. Nicht ein Kind, nicht eine Lösung, nicht einen Punkt. Es geht um ein Gefühl. Eines, das man das ganze Jahr haben kann. Freude. Ruhe. Frieden. Ich glaube, das kann man nicht herstellen. Nur erkennen. Und annehmen.“

Barney nickte langsam. „Ich hab alte Kinderzeichnungen von Minze gefunden. Weihnachtsbilder. Keine großen Sachen. Ein Schloss mit Flügeln. Ein Weihnachtsmann mit drei Augen. Ein Kamin, aus dem Herzen aufsteigen. Und zwei Hände, die ein Licht weitergeben. Ich hab versucht, das zu verstehen – aber vielleicht soll man’s gar nicht verstehen. Vielleicht muss man’s nur sehen. Mit anderen Augen.“

Falbala sah zu Erna.
Die rührte weiter im Teig, als hätte sie gewusst, dass die Frage zu ihr kommen würde.
„Ich hab vorgestern Agnes und Konrad getroffen“, sagte sie. „Du erinnerst dich? Sie war Kammerzofe, er Stallmeister.“
Falbala nickte.
„Sie haben erzählt, wie es früher war. Kein Programm. Kein Zwang. Einfach Weihnachten, weil man zusammen war. Weil keiner allein war. Und das hat gereicht.“

Eine Zeit lang sagte niemand etwas.
Dann meinte Falbala leise: „Vielleicht geht’s gar nicht um Wahrheit.“
„Vielleicht reicht ein Gefühl“, ergänzte Erna.
„Dann bleibt noch Hades“, sagte Barney.

„Er ist morgen wieder da“, sagte Falbala.
„Aber wir noch nicht“, meinte Erna.
„Dann wird er zuerst allein mit der Antwort sein“, murmelte Barney.

In der Küche war es still.
Aber niemand fühlte sich verloren.

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