Der einundzwanzigste Dezember begann mit einer vorsichtigen Stille im Schloss. Nicht gedrückt, aber wachsam – als würde der Morgen lauschen, bevor er sich blicken ließ. Erna war zuerst wach, dann Falbala, dann Barney. Hades’ Tür blieb geschlossen, und niemand war überrascht.

Beim Frühstück standen drei Tassen auf dem Tisch. Die vierte blieb bewusst im Schrank. Niemand sprach darüber, aber jeder bemerkte es. Erna brach schließlich die Stille. „Wir machen weiter. Wir wissen, was wir suchen.“ Falbala nickte. „Und wir hören nicht auf, nur weil einer gerade nicht mitlaufen kann.“ Barney seufzte. „Wir retten Weihnachten. Und Hades. Wahrscheinlich in der Reihenfolge.“

Sie waren sich einig: Druck half Hades nicht. Abstand vielleicht. Und wenn sie ihn behalten wollten, mussten sie das retten, was ihm längst entglitten war – das Weihnachtsherz Bratonien. Also suchten sie weiter.

Falbala stand auf, um Zettel zu holen – und blieb abrupt stehen. Sie sah in den Flur. Dann zu Erna. Dann zu Barney. Und nach einem Moment sahen es alle:

Das Schloss war trostlos. Kein Stern. Kein Kranz. Keine Lichter. Nur Kartons, die seit Tagen unbeachtet standen, als hätten sie selbst aufgegeben.

„Wir suchen ein Weihnachtskind“, murmelte Falbala, „und hier drin sieht es aus wie eine schlecht gelaunte Abstellkammer.“ Barney stieß einen Karton an. „Nach dem Flackern und dem Maschinenausfall… wir haben alles liegen lassen.“ Erna nickte langsam. „Dann machen wir weiter. Auf beiden Fronten.“

Und so begann das Wuseln.

Falbala hing Sterne über Türrahmen und murmelte gleichzeitig mögliche Kinder-Namen vor sich hin. Barney versuchte, eine Lichterkette zu entwirren und verhedderte dabei mehr sich selbst als die Kabel. „Wenn das hier funktioniert, funktioniert alles“, verkündete er mit dem Heldenmut eines Menschen, der in Wirklichkeit Hoffnung suchte. Erna stand mit Tannengrün in der Hand im Flur und betrachtete den krummen Zweig. „War der schon immer so schief?“ „Ja“, rief Falbala. „Er hat Charakter.“ „Dann hat das ganze Schloss jetzt Charakter“, sagte Barney.

Ein Raum nach dem anderen bekam kleine Funken von Weihnachtsgefühl zurück. Nichts Großes – aber genug, um zu zeigen, dass hier etwas geschah, das mehr war als Deko.

Mehrmals ging jemand an Hades’ Tür vorbei. Immer aus einem Grund – ein Karton, ein Werkzeug, eine Schere. Immer langsam. Aber niemand klopfte. Nicht heute.

Hades selbst saß im Werkraum. Er hatte nicht geschlafen. Vor ihm lag die Spieluhr, die er vor Tagen gefunden und seitdem ignoriert hatte – eine alte, schlichte Konstruktion mit einer Melodie, die halb Erinnerung, halb Mechanik war. Er hatte sie weggelegt, dann wieder hervorgeholt, dann wieder weggelegt. Jetzt lag sie vor ihm auf dem Tisch wie ein fremdes Tier.

„Ich weiß nicht, was ihr an mir seht“, murmelte er. Es war kein Vorwurf. Nur ein müdes Geständnis an die Stille. „Ich weiß nicht, was ich an Weihnachten sehen soll.“ Er strich mit dem Daumen über die kleine Metallkante der Spieluhr. „Vielleicht passe ich einfach nicht hierher.“

Er wollte sie zur Seite schieben. Doch als er sie anfasste, klang ein winziger, kaum hörbarer Ton auf. Nicht abgespielt – eher ein Echo. Ein einzelner Ton, der ihn an etwas erinnerte, das er verdrängt hatte: Wie Barney einmal versucht hatte, die Melodie mitzupfeifen und an jeder zweiten Stelle falsch lag. Wie Falbala ihn dafür „musikalisch praktisch unbrauchbar“ genannt hatte. Wie Erna damals sagte: „Die Uhr klingt, wie du bist: nicht perfekt, aber ehrlich.“

Für einen Atemzug lang – wirklich nur für einen – spürte er etwas, das nicht Müdigkeit war. Kein großer Funke. Keine Erleuchtung. Nur ein kurzer Riss in der Dunkelheit. Ein winziger Gedanke: Vielleicht war nicht alles schlecht.

Im Maschinentrakt spannte sich eine einzige Leitung minimal an. Ein kaum sichtbares Zittern lief durch ein kleines Messingstück unter der Holzverkleidung. Nicht genug, um Geräusche zu machen. Nicht genug, um jemandem aufzufallen. Nur ein Reflex – so schwach, dass selbst die Stille ihn überhörte.

Dann war wieder Ruhe.

Am Nachmittag wirkte das Schloss weniger leer. Barney hatte tatsächlich eine ganze Lichterkette zum Leuchten gebracht und tat so, als hätte er einen technischen Durchbruch erzielt. Falbala stand auf einer Leiter und hängte den letzten Stern so schief auf, dass er aussah, als hätte er Meinungen. Erna sortierte Kerzen, als würde sie Ordnung in die Welt schieben.

Hades kam nicht dazu. Aber sie wussten: Man heilt niemanden, indem man seine Tür eintritt. Man heilt, indem man das Licht anmacht, wenn er zurückkommt.

Als der Abend sank, saßen sie kurz zusammen in der Küche. Müde, aber miteinander. Erna rieb sich die Hände. Falbala schnappte sich einen Keksrest und legte ihn sofort wieder zurück. „Ich verweigere Krümel.“ Barney nickte feierlich. „Krümel sind ein moralisches Problem.“ Sie lachten. Leise, aber echt.

Spät in der Nacht lag das Schloss ruhig. Die Sterne an den Wänden glommen matt, als wären sie selbst nicht überzeugt von ihrer Aufgabe. Es sah nach Weihnachten aus – aber es fühlte sich nicht so an. Eher wie der Versuch, einen warmen Raum zu malen, ohne Heizung.

Erna stützte sich an das Geländer der Treppe. „Es ist hübsch“, sagte sie, „aber…“ Falbala schloss den Karton mit dem restlichen Tannengrün. „Ja. Es fühlt sich an wie…“ Barney hob den Finger. „Sag’s nicht.“ Falbala hob die Augenbraue. „…wie grinchige Notfalldekoration.“ Barney warf die Hände in die Luft. „Ich hab doch gesagt, sag’s nicht!“ Erna musste trotz allem lachen. Ein leises, brüchiges Lachen – aber echt. „Wir sind offiziell Weihnachts-Grinche. Super.“

Dann wurde sie wieder ernst. „Wir haben heute niemanden gefunden.“ Barney nickte. „Nicht mal einen Ansatz.“ Falbala atmete tief aus. „Das heißt, morgen müssen wir los. Wirklich los. Kein Deko-Gedöns mehr.“ „Keine grünen Grinch-Gesichter mehr“, ergänzte Barney. Erna klopfte ihm auf die Schulter. „Wir schaffen’s. Aber wir dürfen keine Stunde mehr verlieren.“

Hades saß zur gleichen Zeit im Werkraum, die Spieluhr vor sich. Er hatte sie noch einmal in die Hand genommen, ohne es zu wollen. Sein Blick war müde, aber nicht mehr ganz leer – eher wie jemand, der an einem Licht denkt, das er aus Versehen ausgeblasen hat.

Die Maschine im Keller blieb dunkel. Kein Summen, kein Glimmen. Nur ein Hauch Restwärme an einer einzelnen Metallkante, kaum fassbar – ein Echo des kurzen Moments, der ihn vorhin gestreift hatte. Nichts, was man bemerken würde. Nichts, das man ernst nehmen könnte. Aber da.

Als die drei schließlich die Lichter löschten, wussten sie eines: Ab morgen gab es keine Ausreden mehr. Keine Deko-Ablenkungen. Keine „wir machen später weiter“-Momente. Sie mussten suchen. Sonst verloren sie Weihnachten – und mit ihm Hades.

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