🎁 20. Dezember – Ein Tag, an dem alles reißt und trotzdem hĂ€lt

Der zwanzigste Dezember begann an einem Tisch, der schon bessere PlĂ€ne gesehen hatte. Die Kaffeemaschine röchelte sich in den Tag, das Brot war mittelmĂ€ĂŸig, die Stimmung konzentriert – aber nicht hoffnungslos.

Erna saß an der Schmalseite, die HĂ€nde um die Tasse geschlossen, als wĂŒrde sie eine Entscheidung warmhalten. Barney blĂ€tterte in einem zerknitterten Notizzettel, den nur er noch lesen konnte. Falbala rĂŒhrte in ihrem Kaffee, als wolle sie prĂŒfen, ob er bereit fĂŒr den Einsatz war.

„Also.“
Erna stellte die Tasse ab. Die Porzellantasse klang leiser als sonst. „Wir wissen, wonach wir suchen. Die Frage ist nur noch: wo.“ Barney nickte, ohne aufzusehen. „Und wie. Und mit wem. Und ohne, dass man uns fĂŒr verrĂŒckt erklĂ€rt.“

Falbala schnaubte leise. „In Bratonien gilt ‚leicht verrĂŒckt‘ als Mindestanforderung fĂŒr den Adel. Du bist also auf der sicheren Seite.“ Sie nahm einen Schluck. „Wir brauchen ein Kind, das Weihnachten im Herzen trĂ€gt. Kein perfektes. Ein echtes.“ „Jemand, der nicht auf den Weihnachtsmann wartet“, ergĂ€nzte Barney, „sondern auf
 nichts. Und sich trotzdem freut.“ Erna grinste schmal. „Du meinst: jemand, der mit dem klarkommt, was ist. Nicht mit dem, was im Katalog steht.“

„Kindergarten haben wir. Schule haben wir. Stadtmarkt. Das halbe Umland“, zĂ€hlte Falbala auf. „Wir können nicht jedem Kind in Bratonien ins Herz schauen. Das gibt Beschwerden beim Amt fĂŒr Inneres.“ Barney hob eine Augenbraue. „Gibt’s das?“ „Bestimmt. Und wenn nicht, erfinden sie es, sobald wir damit anfangen.“

Erna legte die Finger an die SchlĂ€fe. „Wir fangen nicht bei den Orten an. Wir fangen bei den Momenten an. Wo wird’s still in einem Raum? Wo hört jemand wirklich zu?“ „Also keine Wunschzettel“, murmelte Barney. „Sondern Reaktionen.“ Falbala nickte langsam. „Kinder, die nicht nur sagen, was sie wollen – sondern zeigen, was ihnen fehlt.“ „Und wir gehen dahin, wo sie sind“, sagte Erna. „Nicht umgekehrt.“

„Gut“, sagte Erna. „Dann teilen wir auf. Einer ins Dorf, einer in die Stadt, einer ins Umland.“ „Und Hades?“, fragte Barney. Falbala zuckte mit den Schultern. „Der braucht gerade Luft. Und die bekommt er.“ Erna nickte. „Wir zwingen ihn nicht.“

Der Knall kam ohne Vorwarnung. Ein kurzer, trockener Schlag aus den Tiefen des Schlosses. Auf einen Herzschlag folgte das Flackern der Lampen – dann absolute Dunkelheit.

„Das“, sagte Barney, „war nicht die Sicherung.“ Falbala stand sofort. „Maschine.“ Erna tastete nach der Tischkante. „Runter.“

Sie kannten den Weg. Die Stufen, die Kurven, die Unebenheit im dritten Absatz. Der Keller roch nach Stein und abgestellter Hoffnung. Kein Summen. Kein Vibrieren. Nichts.

Vor dem Maschinentrakt war es dunkler als dunkel. Erna drĂŒckte die TĂŒr auf.

Hades stand bereits dort. HĂ€nde in den Taschen. Blick auf die Maschine. Still. „Du bist schnell“, sagte Barney. „Ich war im Werkraum. Wenn’s knallt, bin ich entweder schuld oder betroffen.“ Erna trat neben ihn. „Und diesmal?“ „Keins von beidem.“

Die Maschine lag vor ihnen wie etwas, das vergessen hatte zu leben. Keine Schwingung. Keine WĂ€rme. Kein Puls.

„Hast du
?“ Barney ließ den Satz offen. Hades spannte kaum merklich die Kiefermuskeln an. „Nein. Ich hab nichts angefasst.“ Falbala hob die HĂ€nde. „Wir wissen, dass du nichts zerstört hast. Sonst hĂ€ttest du vorher ein Warnschild aufgestellt.“

Hades reagierte nicht auf den Witz. „Trotzdem klingt’s, als mĂŒsste ich mich rechtfertigen.“ Er sah Barney an. „Es gibt Dinge, die brechen auch ohne mich.“

Falbala trat nĂ€her. „Komm mit raus. Einmal im Kreis. Danach kannst du zurĂŒck in deine Höhle.“ „Ich hab keine Höhle.“ „Dann in dein Zimmer. Oder zu Konrad. Der wartet.“

Hades atmete langsam aus. „Die Einladung von Konrad steht noch“, sagte Falbala ruhig. Erna nickte. „Ich hab’s dir gestern gesagt. Er wĂŒrde sich freuen, wenn du endlich mal vorbeischaust.“ Falbala fĂŒgte trocken hinzu: „Und er hat Kaffee. Viel Kaffee. Das sollte selbst dich locken.“

Hades gab nach. „Gut. Spaziergang. Konrad. Dann Ruhe.“ „Alles, was du brauchst“, sagte Erna.

Als er mit Falbala ging, blieb der Raum leerer zurĂŒck als vorher.

„Jetzt sehen wir uns die Leiche an“, murmelte Barney. Die Maschine reagierte nicht einmal auf den Humor.

Sie prĂŒften Leitungen, Halterungen, Rohre. Alles kalt. Alles stumm. „Das ist tot“, sagte Barney. „Und die Zeit lĂ€uft“, ergĂ€nzte Erna. „Schon seit gestern“, meinte Falbala.

Am spĂ€ten Nachmittag stand Barney im Flur, die Stehlampe vor sich, die nicht anging. „SolidaritĂ€tsstreik“, murmelte er. Die HaustĂŒr ging auf. Schritte. Ein Mantel.

„Ich bin zurĂŒck“, rief Hades. Barney drehte sich um. Hades wirkte ruhiger. „Konrad lebt noch?“ „Mehr als genug. Er redet fĂŒr zwei.“

Barney trat nĂ€her. „Gut. Dann komm. Maschine. Komplettausfall. Ich brauch deinen Blick.“

Hades blieb stehen. „Nein.“ Barney blinzelte. „Wie: nein?“ „Nein wie nein.“

„Du bist Techniker“, sagte Barney vorsichtig. „Ich war Techniker“, korrigierte Hades. „Jetzt bin ich mĂŒde.“

Erna und Falbala kamen dazu. „Was ist passiert?“, fragte Erna. „Ich hab nein gesagt“, antwortete Hades.

„Wozu?“ „Zur Maschine. Zu Weihnachten. Zu allem.“

Falbala verschrĂ€nkte die Arme. „Du bist mĂŒde. MĂŒde Leute treffen endgĂŒltige Entscheidungen.“ „Endlich sagt es mal jemand“, meinte Hades. „Aber es Ă€ndert nichts.“

Dann brach etwas in ihm auf. „Ich wĂŒnschte, ich wĂ€re nie nach Bratonien gekommen.“ Barney zuckte zusammen. „Das meinst du nicht so.“ „Doch. Immer muss ich eure SchĂ€den beseitigen. Jedes Jahr dasselbe.“

Erna hob die HĂ€nde, vorsichtig. „Wir hören dir zu.“ „Zu spĂ€t“, sagte Hades. „Ich hab’s ausgesprochen.“

„Weihnachten kann mir gestohlen bleiben. Was ein Schwachsinn.“ Falbala trat einen Schritt vor. „Hades—“ „Nein. Du verstehst es nicht. Du hast Weihnachten im Blut. Ich nicht.“

Barney machte einen letzten Versuch. „Wir sind deine Freunde.“ Hades’ Blick flackerte. „Vielleicht. Aber heute fĂŒhlt es sich an, als wĂ€rt ihr mein Arbeitsplatz.“

Dann ging er. Ruhig. Unaufhaltsam. Eine TĂŒr im oberen Stockwerk fiel ins Schloss. EndgĂŒltig.

Unten blieb Stille. „Na toll“, murmelte Falbala. „Tote Maschine, trauriges Weihnachten, und der Henker hat sich eingegraben.“ Barney sank auf die Treppe. „Die Maschine weiß wenigstens nicht, dass sie uns im Stich gelassen hat.“

Erna sah nach oben. „Wir lassen ihn. Keine Klopfversuche. Nicht heute.“ Falbala nickte. „Und wenn er nicht mehr rauskommt?“ „Dann mĂŒssen wir Weihnachten retten, ohne ihn kaputtzumachen.“

Draußen schob sich eine Wolke vor das letzte Licht. Der Tag hielt den Atem an.

Der zwanzigste Dezember endete mit einer geschlossenen TĂŒr, einer stillen Maschine und drei Menschen, die spĂŒrten, wie wenig zwischen ihnen und dem Scheitern stand.

Rezeptbild

Manchmal reicht das Papier einfach nicht. Man misst nach, schneidet zu, klappt um – und genau an der letzten Ecke fehlt ein winziger, perfider Zentimeter. In Bratonien nennt man das einen „klassischen Dezembermoment“. Also flickt man, stĂŒckelt, glĂ€ttet mit der Handkante und hofft, dass niemand genau dort hinsieht. Ein bisschen Improvisation gehört schließlich dazu.

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Das Gegenteil passiert mindestens genauso oft: Das Papier ist viel zu groß. Man wickelt, man faltet, und mit jedem Handgriff wird das Paket dicker, unförmiger und ein kleines bisschen beleidigt. Aber Bratonien wĂ€re nicht Bratonien, wenn man nicht trotzdem versucht, aus dem Chaos eine Schleife zu zaubern. Und irgendwie klappt es meistens sogar.

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Und dann gibt es noch die Momente, in denen das Klebeband zum Gegner wird. Es klebt an Fingern, klebt am Tisch, klebt an Stellen, die physikalisch ĂŒberhaupt nicht erreichbar sein sollten. Doch obwohl die Lage aussichtslos wirkt, gibt man nicht auf – denn am Ende hĂ€lt die eine richtige Ecke, und plötzlich funktioniert alles. Manchmal ist der Dezember eben ein kleiner Ringkampf.